Von Martin U. K. Lengemann (Text und Fotos)
Als mein Urgroßvater starb, war ich fünf Jahre alt. Viele Erinnerungen habe ich nicht an ihn. Johannes Menges war schon sehr alt, und meistens saß er Pfeife rauchend in seinem Sessel. Hinter ihm hing eine Kuckucksuhr. Ich liebte es, wenn zur vollen und zur halben Stunde der kleine Vogel erschien. Wenn ich von meinen Urgroßeltern sprach, nannte ich sie Oma und Opa Kuckuck.
Ein Gespräch mit Opa Kuckuck ist mir im Gedächtnis geblieben. „Opa, warst du
eigentlich im Krieg?“, hatte ich ihn gefragt. Warum ich das fragte? Heute weiß
ich es nicht mehr. Was einen kleinen Jungen so umtreibt. Sicher ahnte ich
nicht, dass mein Urgroßvater schon zwei Weltkriege erlebt hatte. Ich erinnere
mich an die lange Pause, die entstand. „Ja“, sagte er schließlich. Und dann
erzählte er mir die unglaublichste Geschichte, die ich bis heute gehört habe.
Wie er im Frühjahr 1918 auf einer Patrouille zwischen den feindlichen Gräben
plötzlich auf einen englischen Soldaten traf. Wie die beiden jungen Männer
beschlossen, nicht aufeinander zu schießen. „Wir wollten beide nicht sterben“,
sagte Opa Kuckuck. In einem Granattrichter sitzend, rauchten sie gemeinsam eine
Zigarette, zeigten sich Bilder ihrer Lieben daheim. Verständigen konnten sie
sich nur schwer, da der eine nicht die Sprache des anderen sprach.
Als es Nacht wurde, ging jeder wieder im Schutz der Dunkelheit zu seiner Linie zurück. Im Morgengrauen griffen die Briten an. Mein Urgroßvater war Maschinengewehrscharfschütze – er feuerte mit 500 Schuss in der Minute in die heranstürmenden Angreifer. Am Ende lagen unzählige Tote und Verwundete im Niemandsland. In diesem Moment, als er sein Gegenüber kannte, tatsächlich persönlich kannte, sagte Opa Kuckuck, habe er verstanden, was Krieg eigentlich bedeutet.
Oma Kuckuck war konsterniert, als sie hörte, worüber wir sprachen. In den 56
Jahren seit dem Ende des 1. Weltkrieges hatte mein Urgroßvater ihr gegenüber
kaum ein Wort über seine Fronterfahrungen verloren. Warum erzählte er nun einem
Fünfjährigen davon?
Wenige Wochen nach meinem Besuch bei den Großeltern gewann Deutschland das Finale der Fußballweltmeisterschaft 1974. In derselben Nacht erlitt Opa Kuckuck einen Schlaganfall. „Es war die Aufregung“, sagte Oma Kuckuck. Er starb wenig später. Hinterlassen hat er mir ein paar Karl-May-Bände und einen Sessel. Heute habe ich noch eine kleine Holzschachtel, die mein Onkel mir vor ein paar Jahren mit den Worten anvertraute: „Die ist bei dir besser aufgehoben“. Darin allerhand Abzeichen, Uniformschulterstücke, ein Eisernes Kreuz und der Militärpass, der über alle Einsätze mein Urgroßvaters Auskunft gibt.
Seit fast 25 Jahren bin ich Fotograf bei der Welt und der Welt am Sonntag – halte die Gegenwart fest, portraitiere Menschen: Politiker, Manager, Künstler. Und doch fasziniert mich, solange ich zurückdenken kann, die Vergangenheit und was von ihr bleibt. Geschichte. Seit Jahrzehnten mache ich deshalb Bilder von den Spuren des Großen Krieges, wie Briten und Franzosen den Ersten Weltkrieg nennen. Es sind stille Bilder. Landschaften, bis heute gezeichnet. Archäologische Hinterlassenschaften eines totalen Krieges, die uns zeigen, was dem langen Frieden, in dem wir leben, vorausging – und was ihm folgen kann, wenn die Welt abermals aus den Fugen gerät. Mit meiner Arbeit versuche ich den Menschen diesen europäischen Bruderkrieg näher zu bringen, gegen das Vergessen zu wirken und die letzten Zeugnisse zu konservieren.
Wenige Jahre, nachdem ich die unvergessliche Geschichte von Opa Kuckuck gehört hatte, begegnete mir der erste Weltkrieg, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, erneut. Mein Onkel arbeitete in den späten siebziger Jahren in London. Ich besuchte ihn dort mehrmals, verliebte mich in das Land und die Briten. Fortan war die Versöhnung mit dem ehemaligen Feind ein Lebensthema für mich. Oft dachte ich an die Zigarette zwischen den Frontlinien. Als Jugendlicher bin ich mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach Verdun gefahren, später dann noch mehrmals, um über das, was in Frankreich vom Krieg blieb, journalistisch zu berichten. Als sich der Ausbruch des Krieges 2014 zum 100. Mal jährte, beschloss ich, zum ersten Mal die gesamte Frontlinie mit dem Auto abzufahren.
Wie Narben auf einem geschundenen Körper sind die Spuren der Kampfhandlungen von 1914 – 1918 in Belgien und Frankreich bis heute zu sehen. Über 750 Kilometer zieht sich die ehemalige Front von der Schweizer Grenze bis nach Nieuwpoort in Belgien. Marne, Verdun, Champagne, Cambrai, Somme, Ypern. Die Namen der Schlachten lesen sich wie eine Inventur des Horrors. Noch heute kann man den Frontverlauf auf Satellitenbildern aus dem Weltall sehen. 100 Jahre später. Es ist die Narbe Europas.
Die Franzosen nennen die Stelle Kilomètre Zero, Front de l’Este, die Deutschen südlichster Punkt der Westfront. Zwischen Pfetterhausen und Moos im Elsass berührte die Frontlinie die Grenze zur Schweiz. Wo der Bach La Largues vor Moos den Wald teilt, kauern am westlichen Waldrand die deutschen Bunker. Oswald Schwitter, ein pensionierter Manager und Amateurhistoriker, schreibt auf der Internetseite Schweizer-Festungen.ch über das erste Gefecht hier: „Anlässlich des französischen Vorstoßes vom 7. August 1914 stieß eine Schwadron Dragoner und ein Zug Radfahrer als Flankensicherung von Réchésy gegen Pfetterhausen – Moos – Bisel vor. Die Vorhut von 2 Patrouillen zu je 16 Reitern attackierte um 07.20h die deutschen Posten auf dem Gerschwillerboden, 1 km westlich von Pfetterhausen. Der Schusswechsel alarmierte die dt. Besatzung, etwa 110 Mann, unter Kommando von 2 Leutnants, welche südwestlich des Friedhofs bei der Barrikade an der Straße nach Réchésy in Stellung ging. Beim Gefecht wurden 4 französische Dragoner getötet. Die beiden deutschen Leutnants befürchteten, von einer Übermacht eingeschlossen zu werden, und gaben gegen 08.00h den Befehl zum Rückzug gegen Moos, obwohl sie bisher nur einen Verwundeten hatten. Im Rapport der deutschen Offiziere war dann von französischen Truppen aus zwei Infanterie Regimentern und zwei Dragoner Regimentern plus ein Regiment Kürassiere die Rede, statt von ca. 200 Mann.”
Was wie eine Schmonzette aus einem anderen Jahrhundert klingt, wird eine halbe Autostunde weiter nördlich blutigster Ernst. Im Elsass und auf der Rheinebene waren die Franzosen bereits sehr schnell nach Kriegsbeginn auf deutsches Gebiet vorgestoßen und blieben bis zum Waffenstillstand 1918 auch dort. Es gab gelegentliche Scharmützel, aber man bezeichnete diesen Abschnitt als ruhende Front. Eine der grausigen Ausnahmen bildete der Hartmannsweilerkopf, Hausberg des Ortes Hartmannsweiler. Die Soldaten beider Seiten nannten ihn den Menschenfresser. 956 Meter über dem Meer gelegen, wird das Schlachtfeld als der militärisch wertloseste Aussichtspunkt der Front beschrieben. Im Inneren von hunderten Stollen durchzogen wie ein kariöser Zahn und von außen zerfurcht von unzähligen Schützengräben und gespickt mit Bunkern. Die Kuppe wechselte während des Krieges mehrmals den Besitzer. Zwischen Dezember 1914 und Sommer 1916 starben hier 30.000 Soldaten. Die militärische Führung beider Seiten bekam einen Vorgeschmack auf das, was sie im Stellungskrieg erwarten würde. Jährlich zieht der Berg heute 200.000 Besucher an, die sich am schönen Schauer des Grauens laben.
Als ich auf den Berg will, sind alle Zufahrtsstraßen gesperrt. Es ist Frühling, aber es hat geschneit. Keine Seltenheit in den Vogesen. Über Feldwege und Nebenstraßen fahre ich am Rande der Legalität bis auf 900 Meter über dem Meeresspiegel. Hier macht sich ein Geländewagen bezahlt. Wo ein Stein die Absturzstelle eines kanadischen Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg markiert, stelle ich den Land Rover ab. Es ist ziemlich kalt, der Wind pfeift durch die Knopflöcher. Ich ziehe eine Tweedjacke über und binde den Schal enger. Wie mag sich das für die Soldaten in den Gräben angefühlt haben? Da hier oben der Boden lange hart gefroren bleibt, musste man die Gefallenen den gesamten Winter über liegenlassen. Und gestorben wurde viel. Von Toiletten war auch keine Rede. Wenn es wärmer wurde und das Tauwasser in alle Vertiefungen lief, standen die Soldaten beider Seiten in einer brackigen Brühe aus geschmolzenem Schnee, Exkrementen, Leichenteilen und Müll. Der Gestank von Verwesung und Fäkalien muss entsetzlich gewesen sein. Dazu der nie endende, brüllende Lärm der Geschütze, Gewehre und explodierenden Granaten. Ehe es zu spät wird, laufe ich 2 Kilometer den Nachbarberg hinauf. Jetzt sehe ich den Menschenfresser vor mir liegen, friedlich und vom frischen Schnee eingezuckert. Der Ausblick auf die Vogesen ist atemberaubend. Ich fahre weiter entlang der Front. Richtung Nancy, nach Verdun.
Zwischen 1914 und 1918 explodierten auf dem Schlachtfeld von Verdun etwa 50 Millionen Artilleriegranaten. Insgesamt wurden von beiden Seiten 2,5 Millionen Soldaten eingesetzt. Wie viele fielen, lässt sich heute nicht mehr sagen. Zuviel wurde gefälscht und beschönigt. Verdun wird in der Literatur und den Geschichtsbüchern als „die Hölle“ bezeichnet. Hier bewegte sich die Frontlinie in vier Jahren nur um ein paar Meter. Für den Gewinn eines einzelnen Schützengrabens wurden tausende von Soldatenleben geopfert. Der französische Hauptmann Augustin Cochin beschreibt, wie er in der Stellung Toter Mann liegend, ohne den Feind zu Gesicht zu bekommen, Mann um Mann im Granathagel verliert: „Die letzten zwei Tage in eisigem Schlamm, unter furchtbarem Artilleriefeuer, mit keiner anderen Deckung als der Enge des Grabens… Natürlich hat der boche nicht angegriffen, das wäre auch zu dumm gewesen… Ergebnis: Ich bin hier mit 175 Mann angekommen und mit 34 zurückgekehrt, von denen einige halb verrückt geworden sind…. sie antworteten nicht mehr, wenn ich sie ansprach.“
Zehntausende Gefallene wurden nie gefunden. In tagelangem Dauerfeuer wurden die Leichen förmlich pulverisiert. Nicht mehr identifizierbare Leichen wurden in das Beinhaus Douaumont gebracht. Als ich dort vor über 25 Jahren zum ersten Mal war, zuckte ich förmlich zurück, als ich mich bückte, um meine Schuhe zu binden. Direkt vor mir war ein Fenster. Durch diese finstere Öffnung sah ich Berge von skelettierten Leibern. Bis heute bemerken die wenigsten Besucher diese Fenster. Vielleicht wollen sie nicht hinsehen. Wenn man mit dem Auto aus der Innenstadt kommend zum Douaumont fährt, hat man auch nach 100 Jahren keinen Zweifel, dass das hier die Hölle war. Auf Freiflächen und in den Wäldern, Schützengraben an Schützengraben. Nur unterbrochen von den millionenfachen Einschlägen der Granaten.
Zone Rouge nennt man die Areale, die man bis heute nicht betreten darf. Noch immer liegen zahllose Blindgänger in der Natur. Gas und Schrapnelle sind bis heute die gefährlichsten Bedrohungen. An diesem Morgen bin ich sehr früh dran, es ist noch dunkel. Ich möchte Aufnahmen auf dem Schlachtfeld machen, wenn der Frühnebel aus den Bäumen und Niederungen steigt. Wohl ist mir nicht, als ich, einsam und allein, durch die dunklen Wälder fahre. Ich stelle mir vor, wie Armeen von Untoten nachts über das Schlachtfeld ziehen. Niemals Ruhe finden in diesem Inferno von Verdun. Unwillkürlich gebe ich Gas. Hier kenne ich beinahe jeden Graben. Seit über 30 Jahren durchstreife ich immer wieder die Gegend. Wer einmal ein paar Tage in Verdun und Umgebung verbracht hat, der ist förmlich erschlagen von der schieren Größe des Areals, das man als ehemaliges Schlachtfeld bezeichnet. Auch 100 Jahre nach Ausbruch ist der Krieg noch hier, physisch hier.
Westlich von Douaumont, von Toter Mann und Höhe 304 liegt Vauquois. Der Hügel, der auch noch zum Schlachtfeld Verdun gehört, ist nicht so hoch wie der Hartmannsweilerkopf, war aber ebenso umkämpft. Eigentlich war er mal ein Berg. Auf dem Gipfel stand bis 1914 das Rathaus eines kleinen Ortes, das Dorf schmiegte sich an den Hang. Französische und deutsche Pioniere haben den Berg durchlöchert wie einen Schweizer Käse und mit Dynamit gefüllt. Dann haben sie sich gegenseitig in die Luft gesprengt, den Berg mehrfach geteilt, sind dann wieder auf die Gipfel gestiegen und haben sich weiter bekämpft. Als das keinen Erfolg brachte, hat man wieder gegraben. Die Stollen und Gräben sind bis heute erhalten. Vor einem Einstieg wird dringend gewarnt. Als ich durch einen Schützengraben laufe, kommt mir aus einem kleinen Tunneleingang in der Grabenwand eine Gruppe Höhlenarbeiter in Schutzkleidung, mit Sicherungsausrüstung entgegen gestiegen.
Man versucht das Tunnelsystem zu sichern, damit dieses einmalige Zeugnis militärischer Pionierarbeit nicht vollkommen in sich zusammenstürzt. 536 Sprengungen musste der Berg über sich ergehen lassen. Vom alten Dorf Vauquois blieben nicht einmal die Kellerfundamente übrig. Da der Boden vollkommen von Munitionsresten und Leichen verseucht war, wurde der überlebenden Bevölkerung eine Rückkehr verweigert. Eine kleine Gruppe beschloss, unterhalb des Berges ein neues Vauquois zu errichten. Heute leben hier 23 Menschen.
Der Dichter Charles Hamilton Sorley, Jahrgang 1895 wuchs in Cambridge auf, wo sein Vater Professor für Philosophie war. Anfang 1914, ehe er sein Studium in Oxford aufnahm, reiste er für einige Monate nach Deutschland. Während eines Gastsemesters an der Universität Jena überraschte den jungen Dichter der Ausbruch des Krieges. Nach kurzer Internierung in Trier gelang Sorley die Rückkehr nach Großbritannien. Sofort trat er als Offizier dem Suffolk Regiment bei. Seine persönliche Reife ließ ihn nicht in das allgemeine Kriegsgeheul seiner Generation einstimmen, und seine hohe Meinung über Deutschland machte es ihm unmöglich, den Feind zu hassen.
Das machte ihn im Sommer 1914 zu einem ungewöhnlichen Soldaten. Kurz vor seiner Einschiffung nach Frankreich schrieb er an seine Mutter: „…was wir tun ist, den Teufel mit dem Teufel austreiben“. Im September 1915 nahm Sorley, mittlerweile zum Hauptmann befördert, an der Schlacht bei Loos teil. Eine deutsche Kugel tötete ihn am 13. Oktober 1915. Kurz bevor er starb, schrieb er im Schützengraben das Gedicht „To Germany – An Deutschland“.
Ihr seid blind wie wir. Eure Kränkung entwarf kein Mensch,
Und kein Mensch forderte die Unterwerfung eures Landes.
Doch tastend beide, beengt in abgestecktem Denken,
Taumeln wir, und wir begreifen nicht.
Ihr saht nur eure Zukunft großartig entworfen,
Und wir die zulaufenden Pfade unserer eigenen Absicht,
Und wir stehen einander in uns liebgewonnenen Wegen,
Und fauchen und hassen. Und die Blinden bekämpfen die Blinden.
Wenn Frieden kommt, können wir wieder sehen
Mit neugewonnener Sicht des And’ren wahrere Gestalt
Und staunen. Gütiger und warmherzig geworden,
Werden wir Hände fest ergreifen und den alten Schmerz verlachen,
Wenn Frieden kommt. Doch bis zum Frieden, der Sturm,
Die Dunkelheit, der Donner und der Regen.
Ich fahre durch die Champagne, an Reims vorbei nach Noyon. Am 11. April 1918 wurden der Unteroffizier Johannes Menges und sein Kurhessisches Füsilier Regiment von Gersdorff Nr. 80 von der Ostfront aus Polen nach Frankreich verlegt. Operation Michael. Nachdem es zwischen Deutschland und Russland zum Waffenstillstand gekommen war, wurden alle verfügbaren Truppen an die Westfront geworfen. Es begann die deutsche Frühjahrsoffensive. Ein letztes Aufbäumen der bereits wankenden Kriegsnation. Ab 8. Juni 1918 wurde mein Urgroßvater an vorderster Front, südlich von Noyon, eingesetzt. An einer kleinen Landstraße, zwischen Ribécourt und Bailly, verlief die Front. Niemals vorher und nachher kam ein deutscher Soldat zwischen 1914 und 1918 näher an Paris heran. Hinter einem mit Wasser gefüllten Granattrichter sehe ich die Reste eines zerstörten Bunkers. Friedlich schauen ein paar Kühe zu mir herüber.
Hier, 15 Kilometer vor Compiègne, wo einige Monate später der Krieg mit einem Waffenstillstandsabkommen enden sollte, und etwa 80 Kilometer vor Paris, endete General Erich Friedrich Wilhelm Ludendorffs Obsession von der Eroberung der französischen Hauptstadt. Von hier an ging es für die Deutschen nur noch rückwärts. In Opa Kuckucks Militärpass ist von nun an nur noch von Abwehrgefechten die Rede. Die erwähnten Orte liegen immer weiter nördlich.
Tausende Tonnen Erde, Gestein und menschliche Leiber werden südlich des Dorfes La Boisselle über einen Kilometer hoch in die Luft geschleudert. Der menschengemachte Vulkanausbruch überdeckt das unablässige Artilleriefeuer, die Einschläge der Granaten und Detonationen der Schrapnellgeschosse, die seit einer Woche jedes andere Geräusch übertönt haben – die Explosion der mit 28 Tonnen Sprengstoff geladenen unterirdischen Mine unter der deutschen Stellung „Schwabenfeste“ ist selbst im mehr als 200 Kilometer entfernten London noch zu hören. Als die Detonation langsam verhallt, beginnt der Inhalt des Hades auf Wattie und seine Nebenmänner herabzuregnen. Es ist der 1. Juli 1916, es ist der Beginn der Schlacht an der Somme.
Zwei Jahre zuvor hatte Harry Wattie auf die Nominierung zu seinem ersten Länderspiel gewartet, jetzt steckte sein Kopf unter einem Stahlhelm. Es schien, als wäre die Saison 1914/15 die Spielzeit seines Lebens gewesen. Wattie war ein torgefährlicher Flügelstürmer, der stets den Weg in den Strafraum des Gegners suchte. Die Fans liebten ihn, und seine Mitspieler schätzten ihn als guten Sportsmann und Kameraden. Der Heart of Midlothian Football Club aus Edinburgh führte Ende 1914 überlegen die schottische Liga an. Der Klub baute gerade sein Stadion aus, gehörte zu den wohlhabendsten im Vereinigten Königreich. Im Sommer hatte man den englischen Meister abgefertigt, die Blackburn Rovers. Die Hearts, benannt nach einer Novelle des Schriftstellers Sir Walter Scott, waren einer der potentesten Fußballklubs der Welt. Und Harry Wattie, der junge Angreifer, geboren im Schatten des Stadions, einer seiner Stars.
Doch dann brach dieser Krieg aus. Erst lief der Spielbetrieb wie geplant weiter, wollte man den Menschen in der Heimat doch ein wenig Normalität gönnen. Der Londoner Philanthrop Frederick Charrington startete bereits im Sommer 1914 eine Kampagne, die junge Männer in der Öffentlichkeit bloßstellen sollte, die sich nicht freiwillig zum Wehrdienst meldeten. Er ließ ihnen in der Öffentlichkeit von jungen Frauen weiße Federn überreichen. Beschämend. Während die meisten Fußballklubs des Landes es schafften, sich trotzdem aus dem Krieg herauszuhalten, unterzeichneten bald die ersten Spieler der Hearts die Freiwilligenlisten von McCrae’s Battalion, einem sogenannten Pals Battalion, einer Einheit von Kumpels, die auch auf dem Schlachtfeld nicht getrennt werden sollten.
Anführer dieses Bataillons war der charismatische schottische Politiker George McCrae. Am Ende unterschrieben 16 Vertragsspieler, und innerhalb kürzester Zeit schlossen sich den jungen Sportlern 500 Mitarbeiter, Anhänger und Dauerkartenbesitzer des Klubs an. Am Anfang, als das militärische Training begann, konnten die Hearts den Spielbetrieb noch weiterführen. Erst gegen Ende der Ausbildung zeigten sich starke Ermüdungserscheinungen bei den Spielern, und am Schluss der Saison musste man sich Celtic Glasgow um vier Punkte geschlagen geben. Dann ging es an die Front; Harry Wattie ist dabei. Als der Regen aus Leichenteilen, Steinen und Erde nachlässt, steht Wattie mit seinen Mitspielern Pat Crossan und Jimmy Hazeldean nah beieinander, vor ihnen die Sturmleitern. Augenzeugen beschreiben sie in diesem Moment als sehr ruhig. Man habe das Gefühl gehabt, sie seien unzertrennlich.
Der Befehl zum Aufpflanzen der Bajonette erschallt im Graben. Dann, Punkt 7.30 Uhr, ertönt ein Pfiff. Die Männer steigen auf die Leitern, klettern über den Rand des Schützengrabens. Im selben Moment fallen links und rechts die Ersten tödlich getroffen zurück, reißen nachdrängende Kameraden in die Tiefe. Ihr Befehl lautet: Nicht rennen, nicht schießen. „Wir machen einen Spaziergang zu den deutschen Gräben. Die sind eh alle tot, pulverisiert durch unsere Kanonen.“ Ein fataler Irrtum, wie sich bereits nach wenigen Sekunden herausstellt. Wie Getreidehalme unter der Sense fallen die Männer – doch Wattie, Crossan und Hazeldean gehen die Anhöhe hinunter, durch die Talsohle, den Hang empor, immer auf die deutschen Stellung Feste Helgoland zu.
Um sie herum schlagen Granaten ein, Schrapnelle explodieren, Kugeln pfeifen, Splitter fliegen durch die Luft. Es riecht nach Blut, Pulver und verbranntem Menschenfleisch. Ihre Kameraden werden immer weniger. Wie durch ein Wunder werden die drei nicht getroffen. Die Deutschen in der „Feste Helgoland“ feuern aus ihren Maschinengewehren, bis die Schotten direkt vor ihnen stehen, dann heben sie die Hände, wollen sich ergeben. Doch sie müssen alle sterben: Eine Salve aus Enfield-Gewehren streckt sie nieder, den Rest besorgen die Bajonette.
Eine kurze Pause im frisch eroberten deutschen Graben, dann wieder los. Trotz der großen Verluste lassen die Offiziere weiterstürmen. Der Kampftag dauert noch keine zwei Stunden, da liegen zehntausend im Tal und an den Hängen. Das Blut der Toten und Verwundeten vermischt sich mit dem Rot des blühenden Mohns auf den Hügeln. Contalmaison ist das Ziel. Zwischen der Feste Helgoland und diesem Dorf liegt die Waldallee, ein Graben, den die Deutschen verteidigen mit allem, was sie haben.
Auf ein Zeichen springen die Schotten aus der Deckung. Wieder rattern Maschinengewehre, knallen Explosionen. Wieder fallen Männer wie Ähren, zu Hunderten, zu Tausenden. Plötzlich knickt Hazeldean zur Seite weg und stürzt, von einer Kugel im Oberschenkel getroffen, in einen Granattrichter. Weiter, immer weiter. Gefallene und Verwundete bleiben liegen. Die Schotten stürmen, wie in einem Tunnel aus Blutrausch. Crossan läuft vor Wattie. Ein Blitz, aufspritzendes Erdreich, dann ist er verschwunden. Dann, noch ein paar Schritte …
Überlebende des entsetzlichen Schlachtens bei La Boisselle erinnern sich, wie Wattie zu Boden fiel. Er rappelte sich nicht wieder hoch. Es war sein letzter Sturmlauf. Niemand hat ihn oder seine Leiche je wiedergesehen. Ein Länderspiel hat dieser Ausnahmefußballer nie bestritten. Er starb am 1. Juli 1916 im Alter von 25 Jahren.
Nur eine Handvoll der mehr als 500 Freiwilligen des McCrae’s Battailon kehrte nach Edinburgh zurück – Krüppel an Leib und Seele. Nicht wenige Überlebende nahmen sich später das Leben. Der Heart of Midlothian Football Club musste 42 Jahre warten, um die Vorherrschaft des Glasgower Mannschaften zu durchbrechen. 1958 gewannen die Hearts noch einmal das Double, Meisterschaft und Pokal. Wirklich erholt haben sie sich nie vom schwärzesten Tag der britischen Militärgeschichte. Als am Abend die Opfer gezählt wurden, lagen 19.240 tote Briten auf dem Schlachtfeld an der Somme und 2.100 Deutsche.
Jimmy Hazeldean und Pat Crossan überlebten den Krieg und wurden als Invaliden aus der Armee entlassen. Der Heart of Midlothian Football Club ehrt jedes Jahr am Rememberance Day im November die gefallenen Spieler und Mitglieder des Vereins. Zu diesem Anlass pilgern mehrere Tausend Edinburgher an den Haymarket und legen am Hearts War Memorial Kränze und Sträuße aus rotem Mohn nieder. Doch das Herz von Midlothian bleibt für immer gebrochen.
500 Meter die Straße hinauf, nordwestlich von La Boisselle, fraß sich fünf Wochen später die Front im kleinen Örtchen Pozières fest.
George Sainton Kaye Butterworth, geboren am 12. Juli 1885, galt in England als das größte musikalische Talent seiner Generation. Jeder, der sich mal zu Klassik Radio verirrt hat, kennt seine Orchesterstücke The Banks of Green Willow und A Shropshire Lad. Butterworth hatte sich gleich zu Beginn des Krieges freiwillig an die Front gemeldet. Er war 29 Jahre alt, als er am Vorabend seiner Abreise nach Frankreich den größten Teil seiner Kompositionen im Kamin verbrannte. Er wollte, sollte er nicht überleben, nur mit Stücken in Erinnerung bleiben, von denen er wirklich überzeugt war. 19 Werke hielten seinem Urteil stand. Der Rest ging in Flammen auf. Butterworth war ein guter Soldat. Er bekam exzellente Beurteilungen von seinen Vorgesetzten und wurde bald zum Offizier befördert. Bei seinen Untergebenen war er äußerst beliebt.
In Pozières an der Somme wogte die Front über Wochen hin und her. Mal gewann die eine Seite ein paar Gräben, mal die andere. Die Verluste waren außergewöhnlich. Am 16. und 17. Juli 1916 nahmen Leutnant Butterworth und seine Männer eine Reihe von Schützengräben ein. George Butterworth wurde bei dieser Aktion leicht verletzt. Wegen besonderer Tapferkeit wurde ihm das Military Cross zugesprochen. Am 4. August bekam seine Einheit den Auftrag, den wichtigen Verbindungsgraben Munster Alley zurückzuerobern, den die Deutschen seit ein paar Tagen besetzt hielten. Seine Soldaten gruben einen Annäherungsgraben in Richtung Munster Alley und nannten diesen Butterworth Trench, um ihren Anführer zu ehren. Die Schlacht an der Somme erreichte an diesem Tag ihren absoluten Höhepunkt. Obwohl unter Beschuss der eigenen Artillerie liegend und unter schweren Verlusten, gelang die Rückeroberung. Um 4.45 Uhr am Morgen des 5. August schlugen die Deutschen zurück. Butterworth wurde von einem deutschen Scharfschützen tödlich im Kopf getroffen. Hastig begruben ihn seine Männer noch im Graben. In den heftigen Bombardements der folgenden zwei Jahre wurde das Grabensystem bei Pozières vollkommen zerstört. Butterworths Leiche wurde niemals wiedergefunden.
Der Bürgermeister von Pozières hat vor ein paar Jahren veranlasst, dass ein namenloser Straßenstummel hinter seinem Haus Butterworth Road benannt wurde. Dieser mündet in einen Feldweg, dieser in eine Piste und diese in einen Hohlweg – er war der östliche Zugang zum Grabensystem, zu dem auch Munster Alley gehörte. Der Weg vom Haus des Bürgermeisters dorthin ist nur mit einem Geländewagen oder einem Traktor zu befahren. Kurz bevor ich den Hohlweg erreiche, halte ich den Wagen an, um ein Foto zu mache und zu überprüfen, ob der Weg noch breit genug ist, um ihn mit dem Land Rover zu passieren.
Beim Blick auf den Weg erkenne ich, dass ich dem Erbe dieser Schlacht in diesem Moment selbst nur ganz knapp entkommen bin: Vor mir aus dem Weg ragt der Zünder einer scharfen Schrapnellgranate. Beim Umpflügen des benachbarten Felds muss der Pflug die deutsche Artilleriegranate aus dem Erdreich befördert haben. Wäre ich 15 Meter weitergefahren, würde ich diese Zeilen wahrscheinlich nicht mehr schreiben. Ironie des Schicksals – ich, der englische Musik so sehr liebt, steuere einen Steinwurf von der Stelle, an der George Butterworth starb, auf eine deutsche Granate zu. Ich fahre zurück zum Haus des Bürgermeisters und melde ihm den Vorfall. Den Rest erledigt der Kampfmittelräumdienst. Die kommen hier ohnehin alle zwei Tage vorbei und sammeln ein, was so gefunden wurde.
Als ich bei meiner Abreise nach Frankreiche zum Auto ging lief meine kleine Tochter Charlotte hinter mir her. Sie drückte mir einen selbst gebastelten, lächelnden Engel in die Hand. „Papa, wenn etwas Schlimmes passiert, soll der Engel auf dich aufpassen.“ Ich habe den Engel auf das Armaturenbrett gestellt und ihn während der Reise gelegentlich zurück angelächelt. Ganz besonders nach dem Vorfall in Pozières. Als ich wieder in Berlin angekommen war und alle Daten der Reise sichtete, fiel mir zum ersten Mal auf, das George Butterworth am 5. August gestorben ist. Ich hatte stets über das Datum hinweggelesen. Der 5. August ist Charlottes Geburtstag. Einen Schutzengel muss man haben.
Ocean Villas nennen die Briten den kleine Ort Auchonvillers gegenüber dem Dorf Beaumont. Hier wurde im Sommer 1916 das Schicksal zehntausender junger Männer besiegelt. Das Örtchen wirkt wie das perfekte ländliche Idyll. Die Engländerin Avril Williams betreibt hier mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter eine kleine Pension – vollgestopft mit Devotionalien des Krieges. In ihrem Garten hat sie durch Archäologen ein paar Schützengräben ausgraben und rekonstruieren lassen.
Im Keller von Avril Williams Guesthouse befindet sich ein ehemaliger medizinischer Versorgungspunkt der Neuseeländer. In die Wände geritzte letzte Wünsche, Hoffnungen, Initiale und Abschiedsgrüße. Wasser läuft über das Mauerwerk. Das grauenhafte Leid, das dieser Ort gesehen hat, lässt sich heute nur noch erahnen. Und doch greift es mit kalter Hand nach dem, der sich hierher begibt – nach dem, der kommt, um zu gedenken, und auch nach dem, der den Schauder sucht.
In Deutschland interessiert sich heute kaum noch jemand für diesen Krieg. Im Schulunterricht wird er nur gestreift, dient höchstens zur Erklärung, wie Hitler und die Nazis überhaupt möglich wurden. Vom dunklen Mantel des Holocaust bedeckt, führt die Initialkatastrophe unseres Zeitalters ein Schattendasein in unserer Erinnerung. Wir haben aus dem Blick verloren, dass hinter jedem Toten des Großen Krieges die Geschichte eines Menschen steht. Sie wird verdrängt durch das Leid, das wir anderen zugefügt haben. Und doch darf es nicht sein, dass diese vom Wahn ihrer Zeit irregeleitete Generation vergessen wird.
An diesem Abend an der Somme aber fühlt es sich überladen an – als ich abends vor dieser Wand der Erinnerungen sitze, das ganze Haus voll mit Dingen, die etwas mit diesem Krieg zu tun haben, irgendwie zumindest.
Ein britischer Soldatenfriedhof vor dem Ort Crouy-Saint-Pierre. An einem Hang über der Somme liegt der Schotte Cecil Coles begraben. Er war Komponist und Dirigent, wurde musikalisch in Deutschland sozialisiert. Bis Ende 1913 arbeitete er in Stuttgart, assistierte unter anderem Richard Strauss bei der Uraufführung der Oper Ariadne auf Naxos. Als sich in Deutschland die Stimmung gegen Großbritannien wendete, kehrte er in seine Heimat zurück. Auch an der Front setzte er seine Kompositionen fort und schicke sie nach Hause, an seinen Freund Gustav Holst, der sie in einem Karton sammelte. Coles Wirken geriet nach dem Krieg in Vergessenheit. Sein Freund Holst war ihr kein guter Anwalt. Coles Manuskripte verstaubten auf einem Regal.
2001 wurden die Werke wiederentdeckt. Nicht einmal Cecil Coles Tochter hatte bis dahin gewusst, dass ihr Vater Komponist war. Die Mutter hatte nach dem Krieg nie mehr über ihren Ehemann gesprochen. Die Partitur mit der letzten Datierung – es ist ein Trauermarsch, Cortège – weist Matsch- und Blutspuren auf. Cecil Coles hatte einem verwundeten Kameraden helfen wollen, als ihn eine Kugel tödlich traf.
Eine halbe Stunde nordwestlich der Somme liegt Cambrai. Hier tobte vom 20. November bis 6. Dezember 1917 die erste große Panzerschlacht der Geschichte. Ende Juli 1918 wird der Kriegsheld, Philosoph, Insektenkundler und Schriftsteller Ernst Jünger hierher verlegt. Es werden Stoßtruppführer gebraucht, echte Helden. Ein letzter heroischer Einsatz gegen die Übermacht, die seit dem Kriegseintritt der Amerikaner dominiert. Sein Kriegstagebuch “In Stahlgewittern” ist das Zeugnis einer Generation im Blutrausch. In den Originalmanuskripten schreibt Jünger, was nicht veröffentlicht wird: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Wenige Tage später ist der Krieg für ihn vorbei. Lungendurchschuss. Am 22. September 1918 verleiht ihm der deutsche Kaiser für diesen letzten Einsatz in Cambrai den Hausorden der Hohenzollern, den Pour le Mérite.
Am 8. und 9. Oktober findet die zweite und letzte Schlacht um Cambrai statt. Unteroffizier Johannes Menges und seine Kurhessischen Füsiliere sind in der Rückwärtsbewegung. Müdigkeit, Dreck, Krankheiten, schlechte Versorgungslage – Abwehrgefechte im offiziellen Sprachgebrauch. Wenige Tage später wird Opa Kuckuck mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Ein Land gibt sein Letztes für seine Männer, in einem längst verlorenen Krieg.
Langemark in Flandern. Hier begann es 1914. „Deutschland, Deutschland über
alles,
über alles in der Welt“ sangen die deutschen Kriegsfreiwilligen, als sie in das
Mündungsfeuer der britischen
Maschinengewehre stürmten. 45.000 liegen auf dem Soldatenfriedhof, den die
Nazis zum Nationalmythos stilisierten. Endlose Reihen von Namen auf Tafeln. Man
möchte sich übergeben vor Wut. Hier an der Westfront waren beide Seiten bereit,
ihre Jugend zu opfern. Und sie taten es.
Ypern, nur einen Gewehrschuss von Langemark entfernt. Am 22. April 1915 setzten deutsche Truppen zum ersten Mal Chlorgas ein. Am 12. Juli 1917 testeten deutsche Truppen, wieder bei Ypern, erstmals Senfgas. Das Tabu ist gebrochen. Spätestens ab jetzt war der Krieg mit nichts mehr zu vergleichen, was es vorher je gegeben hatte. Seit 1928 wird jeden Abend um Punkt 20 Uhr unter dem Menenpoort der Last Post geblasen, der Zapfenstreich. Das Menenpoort ist ein Gedenktor, welches an der Stelle steht, an der das alte Stadttor von Ypern stand, durch das die britischen Truppen täglich auf das Schlachtfeld zogen. Im Inneren des Tores stehen die Namen von 54.896 toten britischen Soldaten, die bei Ypern fielen und deren Gräber nicht bekannt sind.
Vor der Stadt hat ein Privatmann ein Museum und einen Erlebnisparcours mit Schützengräben rekonstruiert. The Sanctuary Wood Hill 62. Dort, wo von April bis August 1916 tausende kanadische Soldaten im Dreck und Gestank der Schützengräben starben, während sie Ypern verteidigten, kann man heute für 10 Euro Eintritt ausprobieren, wie es sich anfühlt, bis zur Brust im Brackwasser zu stehen oder durch einen gefluteten Tunnel zu robben, in dem Stacheldrahthindernisse liegen. Jede Haftung des Betreibers wird ausgeschlossen.
„Die letzten Augenzeugen, die letzten Überlebenden haben uns verlassen, so dass die heutige Landschaft, die ehemalige Front der letzte lebende Augenzeuge ist.” Piet Cielens, Chefkurator In Flanders Fields Museum, Ypern
Nachdem die letzten Zeitzeugen tot sind, wird die Erinnerung durch die nächste Generation weitergegeben – Geschichte aus zweiter Hand. Ich treffe Nick Roberts, den Enkel des Lieutenant-Colonel Frederik John Roberts, eines Offiziers, der nicht nur als Soldat an der Front war, sondern ein Stückchen Zivilisation an einen Ort brachte, an dem die Menschheit nichts mehr zu erwarten hatte – in die Schützengräben Flanderns. Fred Roberts war Chefredakteur der Wipers Times, einer Satirezeitung aus den Gräben.
Roberts erklärt mir die Idee seines Großvaters: „Der Name der Zeitung war‚ Tommy Slang’ – die Sprache der einfachen britischen Soldaten, die den Ortsnamen Iepres (Ypern) wie Wipers aussprachen. In der Zeitung wurde eine Mischung veröffentlicht aus Heiterkeit, Ernsthaftigkeit und erstaunliche Kunststücke der Poesie, die mein Großvater zum Teil für übertrieben hielt.” Möglich war die Zeitung nur, weil Roberts Truppe auf einer Patrouille eine funktionierende Druckerpresse fand, diese konfiszierte und er seine Leute überreden konnte das irrwitzige Projekt anzugehen, eine illegale Zeitung zu produzieren – alles neben dem regulären Dienst an der Front und in jeder Hinsicht im Untergrund.
Die britische Generalität beäugte die Publikation mit größtem Argwohn. Doch ein einzelner Brigadier entschied, „nur eines wäre noch schlimmer als diese Zeitung, sie zu verbieten. Ist doch Humor das Einzige was uns noch von der Barbarei unterscheidet.”
Manchmal bekamen Roberts und seine Männer den Befehl zum Sturmangriff, und dafür bekam er auch das britische Military Cross, eine sehr hohe Auszeichnung. Als er in den Schützengraben zurückkehrte, korrigierte er dann wieder die Druckfahnen der Wipers Times.
Unter anderem in einer Kasematte, einer mittelalterlichen Befestigungsanlage am Stadtrand von Ypern, wurde ab 1916 „The Wipers Times“ gedruckt, die in kleinen Stapeln in den Schützengräben ausgelegt wurde und sich von Hand zu Hand verteilte. Während des Krieges waren hier, einige Meter unter der Erde, die Pioniere der 12th Sherwood Forester untergebracht. Ein dunkles, tropfnasses Versteck, das ein wenig Schutz bot vor dem unablässigen Artilleriebeschuss der deutschen Belagerer. Heute befindet sich hier eine Brauerei, die der Geschichte des Ortes mit einem besonderen Bier huldigt. Koen Hugelier, der Braumeister wirkt wie ein antiker Druide, wenn er seine Ingredienzien in die dampfenden Kessel gibt. Hier und da noch etwas nachwürzt und allerhand geheimnisvolle Knöpfe drückt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen – aber von Essen und Trinken verstehen die Belgier ja seit jeher etwas. Und Nick Roberts und ich trinken ein Glas auf die Macher der Wipers Times.
Zwischen dem 12. Februar 1916 und dem 11. November 1918 erschienen insgesamt 23 Ausgaben der Wipers Times, die ihre Titel immer an den Einsatzort ihrer Macher anpasste. So entstanden neben der Wipers Times The Somme Times, The Kemmel Times, The New Church Times und schließlich The Better Times – die letzte Ausgabe und Ausdruck der Hoffnung auf bessere Zeiten. Zurück in der Heimat, versuchten die Redakteure der Wipers Times im Journalismus Fuß zu fassen, aber alle wurden in der Fleet Street abgelehnt. Roberts wurde die Leitung der Kreuzworträtselseite einer Boulevardzeitung angeboten. Er und viele seiner Männer wanderten aus, die Trauer um den Verlust vieler Kameraden begleitete sie den Rest ihres Lebens.
Meinem Kameraden
Nie mehr werden wir die gleiche, alten Scheune teilen,
Den selben Bunker, die gleichen Anekdoten,
Nie mehr eine Dose Büchsenfleisch,
Nie mehr unseren Rum unter dem Sternenzelt.
Bis bald, alter Kumpel.
Was waren das für Zeiten, die wir geteilt haben, gute und schlechte,
Wir haben uns einen Unterstand geteilt,
Das gleiche Mauseloch, wenn die Knallfrösche kreischten,
Die gleiche Unterkunft, die immer voll Wasser lief,
Und jetzt – bist Du nicht mehr da.
Wir widerstanden den Stürmen zwei Winter lang
Wir hatten es geschafft, auch dann noch zu grinsen, wenn alles schief gelaufen ist,
Weil wir gemeinsam gekämpft und gegessen haben,
Unsere Herzen waren leicht; aber jetzt – bist Du tot.
Und ich bin ohne Kameraden.
Nun, alter Junge, Du hast jetzt Frieden,
Und ich, es ist jetzt meine Aufgabe, für Dich und die anderen, die jetzt in Frieden ruht,
Ihr könnt sicher sein, dass wir unser Bestes tun werden,
Euch zu rächen.
Nur noch ein Kreuz von einem der am Straßenrand erschossen wurde,
Die Nummer der Kriegsgräberfürsorge und ein Name,
Aber ich bin es, der einen Freund verloren hat,
Und obwohl ich kann um bis zum Ende zu kämpfen,
Kein Unterstand oder Bunker wird mehr der gleiche sein,
Alle anderen Kumpels können nur Kumpels dem Namen nach sein Name sein,
Aber wir alle werden weitermachen, bis zum Ende des Spiels
Weil Du dort liegst.
Auszug aus “The Wipers Times” v. 20. März 1916, unbekannter Autor
Passchendaele. Der Ort östlich von Ypern ist ein Inbegriff des Leidens in diesem Krieg. Neben Vimy Ridge ist es dieser Ort, auf dem der kanadische Nationalmythos fußt. Das britische Oberkommando hatte die Einnahme des Dorfes zur Pflicht der kanadischen Truppen erklärt. Am 10. November 1917 gelang nach dreieinhalb Monaten die Eroberung. Die Zahl der Opfer auf Seiten der Angreifer belief sich auf 250.000.
Wenn uns die Bilder dieser Mondlandschaften, Granattrichter an Granattrichter, alle voller Wasser, dazwischen Matsch und Baumstümpfe in den Sinn kommen, dann sind wir in Passchendaele. Wer hier nicht im Granathagel oder im MG Feuer verblutete, ertrank elendig im Morast der aufgewühlten Felder. Der Boden rund um die Ortschaft ist bis heute von Überresten der Schlacht durchsetzt, die die Bauern bei der Feldarbeit täglich an die Oberfläche befördern.
Alle alliierten Geländegewinne von 1917 wurden während der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 innerhalb weniger Tage komplett zurückerobert.
10. Oktober bis 11. November 1918. Das Kurhessisches Füsilier Regiment von Gersdorff Nr. 80 zieht sich von Cambrai über Saint Quentin nach Maubeuge zurück. Ein letztes Mal werden in Opa Kuckucks Militärpass Abwehrgefechte notiert. Dann ist der Krieg zu Ende. Vom „11. bis 28. November. Rückzug aus den besetzten Gebieten.“
Endlich. Nach etwa 750 Kilometern erreiche ich bei Nieuwpoort die belgische Küste. Ein Himmel über mir, wie ihn die flämischen Maler des 16. Jahrhunderts nicht schöner hätten auf die Leinwand bringen können. Es übersteigt die Vorstellungskraft, dass wenige Kilometer entfernt im Gas gestorben wurde. Der Krieg ist am Strand weit weg. Ich starre auf das Meer. Dort drüben liegt England.
Britische Bomber machten im 2. Weltkrieg Kassel, die Heimatstadt meiner Familie, dem Erdboden gleich. Meine Familie verlor im Feuersturm alles. Doch meine Eltern schickten mich schon als Kind nach England und als ich 16 war mit dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge nach Frankreich – „Versöhnung über den Gräbern“.
Während sich die Generation der Überlebenden jahrzehntelang Mühe gab, das Grauen und das Leiden in den Schützengräben zu vergessen, versuchen heute ihre Enkel und ihre Urenkel zu verstehen, was dieser Krieg für sie bedeutet.
Mein Urgroßvater brauchte 56 Jahre, um über die Begegnung mit dem britischen Soldaten zu sprechen. Die zwei Raucher im Granattrichter, im Niemandsland. Darüber, was Menschen einander antun können. Und wie sie, unversehens, ein paar Minuten lang, versuchen, Menschen zu bleiben. Das Bild geht mir nicht aus dem Kopf.
ENDE
Diese Reportage entstand zwischen Januar 2014 und November 2018 auf mehreren Reisen entlang der ehemaligen Westfront. Eine erste, stark verkürzte Version, erschien im Sommer 2014 in der Welt am Sonntag. Alle Teile der Geschichte erschienen als Teilgeschichten bei WELT. Die komplette Version erscheint erstmalig auf www.die-narbe.net
Am 12. Februar 2016 strahlte N24 (heute WELT) einen Film über die Reise entlang der ehemaligen Westfront aus. Sehen Sie hier den Film in voller Länge.